Ein Leutesdorfer erinnert sich

Ein ganz normaler Schultag 1945/46 war aus heutiger Sicht alles andere als normal. Der Krieg war gerade beendet, es mangelte an den selbstverständlichsten Dingen und das Leben begann nur langsam, sich zu normalisieren. Mein Bruder und ich besuchten das Gymnasium in Neuwied und das war seit dem großen Bombenangriff im September des Vorjahres geschlossen. Erst nach dem Kriegsende und nach Beseitigung der schlimmsten Schäden wurde es wieder eröffnet.

Spätherbst 1945. Als Fahrschüler aus Leutesdorf waren wir in die Quarta versetzt und hatten eine Menge zu lernen. Morgens war es bereits empfindlich kalt. Aufstehen, waschen und anziehen. Viel zum Anziehen hatten wir nicht mehr und so blieb die Hose des Schlafanzuges als Unterhose gleich an. Ein Pullover und eine lange Hose darüber, an die Füße Fußlappen. Socken gab es nicht mehr, Wolle zum Stricken war längst verbraucht. Die Fußlappen wurden aus alten Bettlaken gerissen, etwa 50cm im Quadrat und sie wärmten ausgezeichnet. Die Schuhe, klobig und abgelaufen, aber noch ganz. Sie hielten die Fußlappen an den Füßen fest. Nun das Frühstück. Es war spärlich, aber für mehr hätte die Zeit garnicht gereicht. Unser Zug nach Neuwied fuhr um sieben Uhr; wenn er fuhr. Meist hatte er Verspätung oder fiel ganz aus. Wenn er kam, war er besetzt, so besetzt, daß die Leute auf den Puffern und Trittbrettern standen. Oft kamen wir garnicht mit, weil wir den Kampf um einen Platz verloren hatten. Dann hieß es, auf andere Weise nach Neuwied zu kommen.

Per Anhalter zu fahren, war damals zwecklos. Es kamen viel zu wenig Autos und von den wenigen hielt keines an. Aber es fuhren bereits einige Lastwagen, meist Militärfahrzeuge. Diese mußten bei der Unterführung unweit des Bahnhofes das Tempo wegen der steilen S-Kurve drosseln und dann sprangen wir einfach hinten auf. Das war nicht ungefährlich, besonders das Abspringen von dem fahrenden Wagen. Oft mußten wir auch nach Neuwied laufen. Damit es schneller ging, hatten wir alte Fahrradfelgen in der Böschung versteckt und reifelten damit nach Neuwied im Dauerlauf. Dabei kamen wir täglich auch an unserem Nachbarort Irlich vorbei. Es war ein trauriger Anblick: Wegen der wichtigen Wiedbrücken und dem bedeutenden Rüstungsbetrieb Rasselstein war die Wiedmündung ein bevorzugtes Ziel amerikanischer Bomber – nur die Zielgenauigkeit war nicht so präzise wie in den Kriegen danach. So kamen wir an Bergen von Trümmern vorbei, weil die meisten Bomben im Ort niedergegangen waren. Über eine von den Amerikanern errichtete Notbrücke erreichten wir die Neuwieder Seite der Wied und oft mit Verspätung auch unsere Schule.

Auch hier gab es Probleme, von denen man sich heute keine Vorstellung mehr machen kann. So mußte jeder im Winter ein Stück Holz oder Brikett mitbringen, damit die Schulheizung funktionieren konnte. An Büchern oder Lehrmitteln gab es fast nichts und wir mußten schreiben, schreiben, schreiben. Nur die Pausen waren angenehm, denn dann gab es „Schulspeisung“. Ein Becher für Milch oder Kakao gehörte zu unserer Ausrüstung und dieser wurde von Helferinnen einer Hilfsorganisation gefüllt. Manchmal erhielten wir auch eine Tafel Cadbury Schokolade, eine Banane oder Orange, alles Schätze, die wir kaum kannten. Leider fiel die Schulspeisung bald wieder für Monate aus, denn die französische Besatzungsmacht, die auf die Amerikaner folgte, konnte sich diese humanitäre Hilfe nicht leisten.

Auf dem Stundenplan standen die Fächer Geometrie, Mathematik, Physik, Chemie, Deutsch, Erdkunde, Geschichte, Biologie, Englisch und Französisch. Auch Religion wurde wieder aufgenommen und die Hitlerbilder an den Wänden waren durch Kreuze ersetzt worden. Mit Geschichte tat sich die Schulleitung schwer, denn das „Dritte Reich“ war kein Thema und Kaiserreich und Weimarer Republik noch nicht aufgearbeitet. So lernten wir Alexander den Großen und Caesar kennen. Ähnlich war es mit Erdkunde. Wo lagen denn die deutschen Grenzen und wie waren die Besatzungszonen in die Landkarte zu integrieren? Sicherer war da schon die Landkarte von anno dazumal. Mathematik und Geometrie waren problemlos, denn 1+1 blieb 2 und die Wurzel aus 36 hatte sich auch nicht verändert. Die Mengenlehre schlummerte noch als Idee in irgendwelchen Köpfen und belastete uns nicht. Mit Deutsch konnte man nichts verkehrt machen. Wir hatten doch so hervorragende Dichter wie Goethe und Schiller, deren Gedichte sich mit viel Fleiß auswendig lernen ließen. Ein Mitschüler kam ins Stocken, dichtete aber geistesgegenwärtig selbst: „Er schlägt mit dem Schwanz ?? – einen furchtbaren Kranz – und recket die Zunge“; aus Schillers Ballade „Der Handschuh“, anstelle „Er schlägt mit dem Schweif – einen furchtbaren Reif – und recket die Zunge“. Gemeint ist ein Tiger, der die Arena betritt. Den Namen des Schulkameraden, der dies zum Besten gegeben hat, verschweige ich lieber, aber er hatte die Lacher auf seiner Seite. Wir waren Schüler und wie alle Schüler hatten wir auch Unsinn im Kopf. Eine der „kulturellen Neuerungen“, die die Amerikaner mitgebracht hatten, war der Kaugummi. Zweckentfremdet fand man ihn überall. Er klebte unter den Schulbänken, man saß darauf, und manche Seite der alten Schulbücher war damit zugeklebt. Am schlimmsten aber war es, wenn er in die Haare geriet. Da half nur, großzügig ganze Haarbüschel wegzuschneiden und den Spott der Mitschüler zu ertragen.

Manchmal gingen wir nach Schulschluß noch in die Stadt. Einige Cafés hatten bereits wieder geöffnet und wir bestellten uns eine Portion Schlagcreme. Dies war eine Kunstsahne, die garnicht schlecht schmeckte. Sonst gab es wenig zu kaufen. Erst mit der Währungsreform im Jahr 1948 füllten sich wieder die Regale.

Genauso wie die morgendliche Hinfahrt zur Schule gestaltete sich auch die Rückfahrt nach Leutesdorf: Überfüllte Eisenbahn oder laufen. Wieder hatten wir nicht viel Zeit, denn die Hausaufgaben mußten noch bei Tageslicht gemacht werden. Strom gab es erst gegen Ende des Jahres 1945 wieder, aber noch lange danach war stets mit Stromsperren und Ausfällen zu rechnen. Das Leben normalisierte sich nur langsam.

H.Mohr